ENTSCHEIDUNGEN INS HIER & JETZT HINAUS
Ein Portrait von Sylvia Wendrock

Judith Unterpertinger schwebt zwischen Komposition, Bildender Kunst und Performance. Sie instrumentiert und improvisiert, schneidet und schichtet, schiebt und lauscht und entwickelt ihre Werke intermedial. Dafür fragt sie hinter die Dinge, untersucht Phänomene auf ihren verschiedenen Ebenen und legt deren immanente Parameter frei. Solcherart Ausgrabungen regen die Komponistin zu einer An- und Neuordnung in immer komplexere Klangstücke, Installationen und Performances an. In solcher Verschränkung von Musik mit visueller und performativer Kunst liegt der Ausdruck einer Raumerfahrung ebenso wie eines Zeiterlebens. Mit Augenohren zu hören, mit Ohrenaugen zu sehen, kann in ihren Arbeiten erfahrbar werden. Ihr interdisziplinäres Arbeiten ist dabei keineswegs synästhetisch zu verstehen; in wechselnder Reihenfolge werden Akustisches, Visuelles und Körperliches zu einer gemeinsamen Bewegung dramaturgisch in den Raum addiert, zueinander in Bezug gesetzt. Auf der Suche nach einer neuen Form und Ordnung geschehen also oft Übersetzungen. Doch Judith Unterpertingers intermedialer Ansatz dient letztendlich einem Ausdruck der Vielschichtigkeit und führt sie zur Realisierung musikalisch-performativer Architekturen.

Dabei zielt ihr Werken bemerkt und unbemerkt auf das Phänomen Zeit. Seit 2022 entsteht die Reihe Zeitenverwesung, die das innere Zeitbewusstsein zum Gegenstand hat. Während Überlegungen zur Zeit auch schon früheren Werken zugrunde liegen, thematisiert Judith Unterpertinger in Zeitenverwesung I (2022) die Zeit erstmals selbst, indem sie dem Aufbau von Multiphonics, gleichzeitigem Erklingen vieler Töne selbstreferentiell folgt. Das hat eine gerichtete Bewegung zu Folge, zeigt irreversible Vorgänge an. Zeit wird über die Strecke gemessen, Klang entwickelt sich im Verlaufen der Zeit in einen Raum hinein. Das Verwesende von Zeit erinnert an die Unmöglichkeit, Zeit umzukehren und bringt dies durch deren Materialisierung gleichzeitig so schmerzhaft nahe.

Ein weiterer Aspekt von Zeit ist in der Drehung verhaftet, in der Zirkulation zur Unendlichkeit. In Zeitenverwesung II (2023) wird ein viel größerer Zeitraum eröffnet, der von Erneuerung und vermeintlicher Wiederholung erzählt. Darin ist ein Hinweis auf das Anthropozän enthalten, das unaufhaltsam auf ein Ende zusteuert, dem Verfallen ausgeliefert ist. Judith Unterpertinger beschäftigt sich seit einigen Jahren vermehrt mit den Eingriffen des Menschen in die Natur, wie etwa in der Werkreihe Modified Grounds (ab 2018 - dato), wo sie zusammen mit der bildenden Künstlerin Katrin Hornek u.a. die Materialbewegungen von Kies und Sand zur Herstellung von Beton grafisch erfasst und in mehreren Übersetzungsschritten als Notenschrift interpretiert hat. Aufführungen bzw. Klanginstallationen finden konsequenterweise an Orten der Betonverarbeitung oder des Materialabbaus statt. Aus dem analysierenden und dekonstruierenden Beobachtungsvorgang entsteht ein sensueller Forschungsraum aus Klängen, Geräuschen und Stille.

Judith Unterpertingers Werke erzeugen physische Erfahrbarkeit verdeckter Phänomene.  Werktitel wie Zeitenverwesung oder Piano Sublimation erzeugen plastische Vorstellungen und bezeugen ihr verkörperlichendes Denken. Über bloße (fluxistische) Dekonstruktion hinaus wurden mehrere Pianos derart zerlegt, dass dessen Teilstücke weiterhin bespielbar, also akustisch erfahrbar bleiben – der akustische Innenraum von Wandklavieren, sogenannte Pianoguts konnten somit beginnen, sich der Künstlerin mitzuteilen. Ausgehend von einem Konzertflügel stellt Piano Sublimation (2012 - 2016) schließlich eine große audiovisuelle Dokumentation dar, in der Aktion, Komposition und Performance, Fotografie und Zeichnung in Zusammenarbeit mit dem bildenden Künstler Michael Wegerer prozessual in musikalische Loops, Videos, rauminstallative Objekte und einer LP überführt wurden.

Das Projekt Piano Sublimation wurde in Neuseeland, Kanada, England, Schweden und mehrmals in Österreich präsentiert. Artist Talks im Iran und in Südkorea folgten. Es wurde mit dem Woyty Wimmer Preis 2013 ausgezeichnet und war 2017 Winner of the 5th International Print Show (NZ).

Auch in der Performancegruppe znit, die sie 2002 zusammen mit der Choreografin und Tänzerin Katharina Weinhuber gründete, stehen Dekonstruktion und die Suche nach einer Essenz im Vordergrund, diesmal mit  den bestehenden bürgerlichen Zuständen und gesellschaftlichen Zuordnungen der Frau zum Thema.

Das Frau-Sein war auch Gegenstand der Kammeroper JUDITH (2012) sowie der Tanzoper JUDITH | Schnitt_Blende (2015). In enger Kooperation mit Katharina Weinhuber, der Videokünstlerin Catherine Ludwig und der Schriftstellerin Magdalena Knapp-Menzel entstand ein Musiktheaterstück, das drei Personae unter dem Begriff Judith zeichnet: die biblische, die großmütterliche und die zeitgenössische. Allein die biblische Judith erfuhr in der visuellen Darstellung durch verschiedene bildende Künstlerinnen sehr unterschiedliche Rollen, Siranis Gottgläubige, Gentileschis Mörderin oder Klimts Femme fatale. Alle drei Judiths haben jeweils eigene Musik, eigene Stimmen, eigene Texte, auch eigenes Bewegungsmaterial und beginnen unter Judith Unterpertingers Feder miteinander zu sprechen, zu tanzen, zu spielen und zu singen. Und wieder lässt sie diese verschiedenen Ebenen derart intermedial ineinandergreifen, dass sie einander bedingen, um so gleichwertig zu werden. Genau ausdifferenzierte Gestaltungsebenen werden konzeptuell quasi demokratisch zu komplexen Strukturen gewebt, die kooperative Beteiligung von Künstlerinnen verschiedener Disziplinen am Schaffensprozess geradezu voraussetzen.

Der wechselseitige künstlerische Dialog ist ein Wegzeichen in Judith Unterpertingers künstlerischer Genese. Durch ihn erfährt sie Möglichkeiten einer interdisziplinären Arbeits- und Denkweise, um künstlerisch Zusammenhänge herstellen zu können, die über Gegenwärtiges und Gesetztes hinausweisen und gleichzeitig komplexeste Möglichkeiten von Wirklichkeiten darstellen. Und genau diese Komplexität verschafft ihnen spürbare, lebendige Glaubhaftigkeit.

Judith Unterpertinger lebt und arbeitet nach Ausbildungen in Komposition, Klavier, Philosophie und Fortbildungen in zeitgenössischem Tanz, Performance und bildender Kunst in Wien, Linz und London (England) wieder in Wien (Österreich). Sie inszeniert ihre Werke kollaborativ häufig abseits von Konzertsälen und improvisiert als JUUN weltweit an Pianoguts und tritt in Ensembles verschiedenster Genres auf, u.a. mit tütü (mit Caroline Mayrhofer und Fabian Pollack) und snim - Spontanes Netzwerk für Improvisation.

„Komponieren bedeutet, die Gleichzeitigkeit der Dimensionen der Zeit zu denken. Es ist mit einem mehrdimensionalen Prozess vergleichbar. Jeder Tonabfolge, Farbe, Skizze, jedem Puls, rhythmischen Modus, jeder außer- und innermusikalischen Idee kommt eine Eigenzeit zu. […] Um ein Stück in eine Einheit zu bringen, also alle Eigenzeiten zu einer Zeitwelt zusammenzuführen, zu fixieren und aufzuschreiben, muss erst eine Stasis, ein Stillstand erzeugt werden. Gewissermaßen eine Zeitenthobenheit, die es erlaubt, eine Gestalt zu beobachten, um sie niederzuschreiben und dann weiterzuentwickeln. Darin liegt der Prozess des Komponierens: ein fluktuierendes Hin- und Herwandern zwischen Zeiten und Stasis.“ (Judith Unterpertinger)